"Najim, was ist nur mit Dir geschehen?"

Ein ehemaliger Lehrer von Najim Laachraoui - Letzterer hat sich am 22. März bei den Attentaten am Flughafen von Zaventem in die Luft gesprengt - hat diesen Brief an Najim und an unsere Gesellschaft geschrieben. Darin erinnert sich der Lehrer an einen Jungen, der über seine Religion diskutieren wollte, der einst an einen Islam des Friedens glaubte. Und stellt sich die Frage, wie es nur dazu kommen konnte, dass Najim zum Terroristen wurde. Ein Brief, der zum Nachdenken anregt. Die französischsprachige Zeitung Le Soir hat den Brief am 29. März 2016 veröffentlicht und wir haben ihn für Sie ins Deutsche übersetzt.

An diesem Dienstag, dem 22. März 2016, habe ich von Najim geträumt. Ich bin wach geworden und habe mir gesagt, ich sollte das aufschreiben. Zum Zeitpunkt der Explosion in Zaventem war ich gerade dabei, "meine Ideen auf Papier zu entfalten". Ich hatte meine wenigen Paragraphen kaum zu Ende gebracht, als ich meine Lebensgefährtin rufen hörte und sie mir die traurige Nachricht ankündigte. Seither zögerte ich, meine Erfahrung mit Najim zu veröffentlichen. Weil die Medien eine Gefahr darstellen. Weil das Bild so vieler Leute auf dem Spiel steht. Es ist eine Gratwanderung. Weil das Geschehene schrecklich ist. Weil alles getan werden muss, um zu verstehen und zu verhindern, dass es sich wieder ereignet. Auch weil zu viel Unsinn geredet und geschrieben wird, habe ich mich letztlich doch entschieden, mich zu äußern.

"Mein Porträt" von Najim Laachraoui beruht auf meinen Erinnerungen und denen näherer Bekannter. Ich habe zwingende Fragen gestellt, vor allem aber wollte ich die Bereitschaft signalisieren, dass wir es schaffen können, gemeinsam, in der Verschiedenheit, durch Zuhören, gegenseitiges Verständnis und Austausch, unsere Gesellschaft voranzubringen.

Najim war ein fröhlicher Schüler, der leicht Anschluss fand. Zuvorkommend. Beim Kontakt mit den Mädchen schien er eher schüchtern und zurückhaltend. Er war interessiert und suchte regelmäßig das Gespräch mit bestimmten Lehrern. Lange bevor ich ihn in meinem Unterricht hatte, war er mir aufgefallen, wie er mit seinen "Kumpeln" in den Gängen herumlief und Leuten gegenüber, denen er begegnete, ohne weiteres Anmerkungen machte.

Als er in meiner Klasse war, konnte ich beobachten, dass er das Schuljahr erfolgreich abschließen würde und intellektuelles Interesse an einer Vielzahl von Themen zeigte.In zahlreichen Diskussionen während meines "Religionsunterrichts" zwischen Schülern, die unterschiedlichen Religionen angehören, reagierte er dennoch sehr aufgebracht gegen die Schule und gegen eine Gesellschaft, die den Islam nicht verstanden. Er fühlte sich missverstanden und zu Unrecht herabgewertet. Er war intelligent genug, die Schwächen und Grenzen der Lehrer oder einer Welt einzuschätzen, die dazu neigte, seine Religion verächtlich zu betrachten. Damals hatten wir noch nicht wirklich unser "System der Schülerpartizipation am öffentlichen Leben" eingeführt und insgesamt gesehen konnte ich ihm nicht ganz Unrecht geben.

Ein gewaltloser Islam

In der Oberstufe hatte sein Islam keine gewalttätige Seite. Im Gegenteil: Er recherchierte und verwandte viel Energie darauf, zu zeigen, dass der Islam sogar bei Themen wie der Sklaverei oder der Steinigung für "Freiheit", "Friede" und "Bildung" stand. Seine Religion bestand aus Praxis, Prinzipien. Es war auch ein System, das ermöglichte, die Bedürfnisse der Männer besser zu stillen, als dies unser Westen tat.

Gleichzeitig änderte Najim sein Verhalten. So fing er im letzten Oberstufenjahr an, kürzere Hosen zu tragen, einen Kinnbart wachsen zu lassen und den Mädchen nicht mehr die Hände zu schütteln. Nichts Außergewöhnliches für einen muslimischen Brüsseler, der zugleich seine Belgitude und seinen Islam entdeckt. Wie viele andere befand er sich im Spannungsfeld mehrerer Referenzen. Wie viele andere stand eine davon unter dem Einfluss der zahlreichen wahhabitischen Webseiten und Werke, die in Brüssel zu leicht zugänglich sind.

Ich erinnere mich sehr gut an das Ende seiner mündlichen Prüfung im letzten Oberstufenjahr. Wir hatten eine lange Diskussion, im Verlauf derer er gleichzeitig seine tiefe Überzeugung der Überlegenheit des Islams über das westliche Modell und eine offensichtliche Abneigung Letzterem gegenüber zum Ausdruck brachte. Ich habe ihm damals gesagt, dass der Tag kommen würde, an dem sein Idealismus auf die Probe gestellt würde und dass er aufpassen müsse, sich mit seinem Stolz und seiner Wut nicht zu verrennen. Mit seinem breiten Lächeln, sagte er mir, dass ich mir keine Sorgen machen müsste.

Danach hat Najim mit einem höheren Studium begonnen, an der  polytechnischen Fakultät, wurde mir berichtet. Ich weiß nicht, wie er die Integration in einer Umgebung erlebt hat, die es meiner Meinung nach weit weniger zuließ, über Religion und Anschauungen zu diskutieren. Über diesen Zeitraum, das haben mir andere ehemalige Schüler gesagt, habe er sich nicht verändert, das heißt, er sei weiterhin charismatisch, fröhlich und einem friedliebenden Islam zugewandt gewesen. Andere berichteten mir auch, er habe gesagt, er sei durch die zahlreichen Kommentare an der Universität über den Islam und die Muslime verletzt worden.

Einige Monate später haben eine Kollegin und ich, jeder für sich, von ihm gehört. Er hat uns über Mail frohe Weihnachten gewünscht. Wir haben ihm daraufhin alle beide geantwortet, aber er hat nicht mehr reagiert. Vielleicht hatte er keine Lust mehr, zu diskutieren? Seine "Fröhliche Weihnachten" erscheint mir heute jedenfalls wie mit einem Vorwurf belastet. Als wolle er sagen: "Was mich betrifft, ich achte auf Euch, aber wer achtet den Islam?"

"Kein schlechter Junge"

Nein, Najim war kein schlechter Junge, er war nett und hilfsbereit. Er hatte einen freundlichen Blick. Nein, er war kein Jugendlicher, über den sich die anderen wegen seines Verhaltens oder wegen seines Aussehens lustig machten und der sich im Gegenzug an seinen Mitmenschen abreagierte. Nein, er war kein Kind, dessen Eltern kapituliert hätten, das nicht genug Liebe oder Bildung bekommen hätte. Nein, er war keiner der vielen Jugendlichen, die zwischen den Rädern des Schulsystems vom Regen in die Traufe kommen und nur in der Rolle des Gangsterbosses Anerkennung finden können. Nein, er war nicht einer dieser Benachteiligten, die vom Schulabbruch in der Kriminalität landen, von der Kriminalität ins Verbrecherfach geraten und dann auf den Terrorismus umsteigen. Nein, Najim war auch kein Jugendlicher ohne Zukunft. Trotz seines Namens und seiner Hautfarbe. Sein schulischer Erfolg und seine Intelligenz hatten ihm bereits Türen geöffnet und hätten sie ihm weiter geöffnet.

Wie aber? Warum? Najim, verdammt!! Wie konnte es mit Dir nur so weit kommen?

Was hat Dich nur dazu gebracht, Deine Friedensideale, Deine "perfekte Religion" gegen diese Barbarei und Zerstörung einzutauschen? Wie konntest Du, das geliebte Kind, Deine Familie, Dein Viertel, Deine Gesellschaft verlassen? Wie konntest Du nur töten, Najim? Wie hast Du nur Morde für die anderen planen können? Wie hast Du Dir nur diese feigen und barbarischen Bomben, die Körper und Glieder zerstören und darüber hinaus Leben stehlen, ausdenken und zünden können? Was hat Dich nur dazu gebracht, ein solch großes Leid zu verursachen?

Als Du ein Teenager warst, mochte ich Dich gerne, Najim. Jetzt fühle ich nur Traurigkeit, Wut und Scham. Mit Deinen Handlungen hast Du "Angst" und "Scham" über Deine Familie gebracht, über Deine Freunde, über Deine Schule, über Deine Gemeinde, über Deine Stadt, über Dein Land, über Deine "Religion". Und für alle wird es sehr schwierig werden, wieder aufzustehen. Deinen jugendlichen Idealen von einer Gesellschaft, die den Wert des Islams anerkennt und ihm einen Platz gibt, hätte man nicht schlechter dienen können.

"Wie haben wir uns das gefallen lassen können?"

Verdammt, wie haben wir, auch wir, es soweit kommen lassen können? Wie haben wir zulassen können, dass der wahhabitische Islam in fast 40 Jahren all diesen Platz in den Moscheen, in den Buchhandlungen, in den Vierteln einnimmt? Wie haben wir ignorieren können, dass in dieser Religion des Friedens, hinsichtlich der Muslime, die Menschen des Friedens sind, dass dort eine Gefahr lauerte? Hat uns der Islam so wenig interessiert, dass wir nicht erkannt haben, dass sich nur eine einzige Interpretation, und zwar die am wenigsten mit unserer Gesellschaft vereinbare, verbreitet hat? Hat uns die Immigration so wenig interessiert, dass wir nicht verstanden haben, dass jeder x-beliebige junge Mensch aus zwei verschiedenen Kulturen seine Herkunft und seine Zugehörigkeit zur islamischen Glaubensgemeinschaft erkunden möchte und dass dieser Prozess hätte begleitet werden müssen?

Wie haben wir die Untätigkeit der Schulen nur dulden können? Warum haben wir die Kräfte, die sich um Veränderung bemühten, nicht besser bestärkt und gefördert? Jene, die Ausschluss und Repression beenden wollten. Die lernten, die Vielfalt besser zu steuern. All jene, die sich bemühten, den Jugendlichen tatsächlich mehr Räume zur Entfaltung zu geben.

Wie haben wir im Internet nur all die Daesh-Videos wuchern lassen können, ohne zu reagieren? Warum ist uns entgangen, dass es von existenzieller Bedeutung ist, jungen Menschen beizubringen, wie man mit dem Internet und den neuen Medien umgeht?

Warum haben sich unsere intellektuellen Muslime nicht mehr Zeit und Energie genommen, andere Interpretationen des Islams ins Netz zu stellen, in die Moscheen und an die Öffentlichkeit zu bringen? Interpretationen, die Najim als Teenager mochte, aus denen Liebe, Friede, Freiheit und Bildung entstehen können? Warum hat man denen, die das gemacht haben, nicht mehr Mittel gegeben, um ihre Aktionen sichtbar zu machen, um dem Islam die Möglichkeit zu geben, eine andere Vorstellung als die der traditionalistischen Starrheit oder die der terroristischen Gewalt zu reflektieren?

Warum fällt der Gedankenaustausch in unserer Gesellschaft nur so schwer? Warum ist in den Schulen, in den Vierteln, in den Universitäten so wenig Platz, um gemeinsam zu überlegen, unsere Unterschiede gegenüberzustellen und in einen Dialog zu treten? Warum gelingt es unserer Gesellschaft kaum, sich beim Thema Religion in Frage zu stellen?

Wir trauern, aber es kommt die Zeit des Nachdenkens. Ich bete, damit wir aus Najim und den vielen anderen Mördern keine "Ausländer" machen. Ich hoffe, es gelingt uns das, was uns auf ihrem Weg berührt und betroffen hat (mit Ausnahme ihrer Verantwortung), zu erkennen. Ich fordere dringend für unsere Schulen und unsere Gesellschaft, Mittel für eine Veränderung zu bündeln. Ich wünsche mir von ganzem Herzen, dass dank dieser Veränderung ein größerer Dialog, mehr Toleranz gegenüber anderen, mehr Bildung und vor allem mehr Gehör für die jungen Leute gedeiht.

Najim Laachraoui

Najim Laachraoui alias Soufiane Kayal alias Aboe Idriss war einer der beiden Massenmörder, die den Selbstmordanschlag am Flughafen von Zaventem verübten. Er war auch in andere Terrorverbrechen verwickelt, unter anderen die in Paris.

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