Kommentar: Auf einmal interessieren sich wieder alle für Belgien - ein Plädoyer für die Toleranz

Viele internationale Medienvertreter, die noch vor 10 Jahren nach Brüssel kamen, interessierten sich vor allem für die Politik der EU und das Treiben ihrer Institutionen, für die zahlreichen internationalen Verbände und die Nato. Kaum jemand wollte etwas über Belgien schreiben, es sei denn über Schokolade, Pommes Frites oder über das "Nachbeben" der Grausamkeiten von Dutroux, mit denen Belgien seit 1996 mehr als einmal weltweit Schlagzeilen machte. Auch die 589 Tage ohne Regierung waren zwischendurch schon mal ein Thema. Doch sonst ließen die meisten ausländischen Medien die Finger vor allem von der belgischen Innenpolitik. Das ist jetzt nicht anders, nur prügeln einige spätestens seit den Terroranschlägen von Paris und den vielen Spuren, die nach Belgien, insbesondere in den Brüsseler Stadtteil Molenbeek führen, auf dieses Land ein.

Und nicht nur ausländische, auch viele einheimische Medien, fassen dieses Land in ihrer Berichterstattung nicht gerade mit Samthandschuhen an. Man fühle sich nicht mehr sicher hier und von der "Dschihad-Hauptstadt Molenbeek" ist zum Beispiel die Rede.

Wie der ehemalige US-Botschafter in Brüssel, Howard Gutman, an diesem Sonntag in der VRT sagte, müssten die ausländischen Medien ihre Zeitungen verkaufen, deshalb kommen Nachrichten wie der Anschlag auf das jüdische Museum in Brüssel im letzten Jahr, die Aushebung einer IS-Terrorzelle in Verviers Anfang des Jahres und der Attentatsversuch in einem Thalys-Zug letzten August, bei dem dank amerikanischer Soldaten ein Blutbad verhindert werden konnte, besonders groß in die Medien. Auch das ist bei den einheimischen Nachrichten nicht anders.

Überhaupt sind schlafende Terrorzellen, die nur wachgerüttelt werden müssen und eine von Polizei und Soldaten bewachte Hauptstadt, die gar mehrere Tage im "Hausarrest" verbringen musste sowie eine Terrorwarnstufe, die herauf- und dann wieder herabgesetzt wird, obwohl zwei der Attentäter noch immer im Land vermutet und nicht gefasst sind, verwirrend und sicher "eine Schlagzeile wert".

Schlafende Terrorzellen in Molenbeek? Ja, in der Politik in Belgien ging vieles schief und die komplizierten Strukturen, sowohl was das gesamte Land betrifft (drei Regionen, drei Gemeinschaften und unendlich viele Parteien), als auch auf Hauptstadtebene (19 Gemeinden und 6 Polizeizonen) und obendrein drei offizielle Sprachen in Belgien, die zwar eine große Bereicherung sind, die aber auch gelernt sein wollen, haben ihren Teil dazu beigetragen. Auch eine falsch verstandene Toleranz, man könnte sie bösartig als Ignoranz oder Interesselosigkeit bezeichnen, sind an der derzeit schiefen Lage und am schlechten Image des Landes mit schuld. Ein Image, das übrigens nicht erst seit den Anschlägen vom 13. November in Paris angekratzt zu sein scheint.

Dass sich im Vergleich zu anderen Ländern Europas besonders viele junge Leute in diesem kleinen Land radikalisieren und in den Kampf nach Syrien aufbrechen, wissen wir schon länger und dass viele Muslime in Belgien nicht wollen, dass ihre Moschee in einem Atemzug mit einer von Saudi-Arabien finanzierten Moschee mitten in Brüssel genannt wird, ist auch kein Geheimnis, genauso wie die Regierung nicht mehr leugnen kann, dass Justiz und Militär langsam kaputt gespart sind. Um dies alles weiß auch die heutige Regierung und sie hat erkannt, dass es zum Beispiel sinnvoll wäre und überfällig ist, bei der Polizei mehr arabisch sprechende Beamte einzustellen und dass Belgien seine eigenen Imame ausbilden sollte, damit es besser kontrollieren kann, wer was in den Moscheen predigt.

Eine weitere Maßnahme oder vielmehr Forderung, die Belgiens Außenminister Didier Reynders erst vor wenigen Tagen vortrug, weil er sich gezwungen sah, dem Ausland und der eigenen Bevölkerung endlich zeigen zu müssen, dass Belgien durchaus einen Anti-Terrorplan hat, ist übrigens mehr Informationsaustausch, nicht nur auf europäischer, sondern auch auf internationaler Ebene. Hierbei soll also auch das Ausland in die Verantwortung genommen werden, denn wie Reynders treffend betonte: In den großen Ländern sammele man gerne Informationen, teile diese aber nicht so gerne mit anderen.

Mit mulmigem Gefühl im Bauch

Seit den Anschlägen in Paris zeigt die ganze Welt mit dem Finger auf dieses "verwegene Land" namens Belgien, in dem man "in einer Bar ganz leicht eine Kalaschnikow kaufen" könne, wie es Außenminister Didier Reynders in einer Analyse gegenüber der Zeitung Le Soir (28.11.2015) selbst erwähnte. Alle, auch die ausländischen Medien, reden auf einmal mit, jeder hat etwas zur Anklage oder zur Verteidigung Belgiens zu sagen, auch diejenigen, die sich gerade erst in Belgien etabliert haben und solche, die vor den Hausdurchsuchungen in Zusammenhang mit den Anschlägen in Paris noch nie einen Fuß nach Molenbeek gesetzt hatten.

Es wird geurteilt, doch Belgien steht nicht vor Gericht. Es hat durchaus sein wohl zu lange geduldetes "Laissez-Faire" erkannt. Das Land oder vielmehr die Hauptstadt rüstet auf, gegen den Terror mit massenweise Soldaten und Polizei im Straßenbild und gegen die eigene Angst, zum Beispiel mit Katzenbildern im Internet.

Wenn man dann aber den bis zu den Augen maskierten Soldaten mit ihren Gewehren im Anschlag nachts plötzlich gegenübersteht, wird man das mulmige Gefühl nicht los, dass es mit dem ruhigen, beschaulichen Leben in der belgischen Hauptstadt, in der bislang vor allem Toleranz, Leben und leben lassen galt und über die einst kaum jemand berichten wollte, vorbei zu sein scheint.

Auch einige Journalisten, einheimische wie ausländische, sind wohl beim Anblick von so viel Polizei und Militär im Straßenbild Brüssels plötzlich beunruhigt, dabei soll diese Maßnahme doch genau das Gegenteil bewirken und der Bevölkerung ein gewisses Sicherheitsgefühl vermitteln.

Eine überzogene Reaktion der Regierung?

Eine überzogene Reaktion der Regierung? Wohl kaum, angesichts der Tatsache, dass dort draußen noch immer zwei mutmaßliche und sicher noch viel mehr potenzielle Attentäter frei herumlaufen, deren Gehirn jederzeit aussetzen könnte und bei denen man damit rechnen muss, dass sie sich und andere auf das Schlimmste gefährden.

Die Regierung investiert jetzt also in mehr Sicherheit und sie hat deutlich mehr als bisher die Absicht, Bürger, die nach Belgien immigrieren, auf die Einhaltung der Werte hierzulande, wie die Gleichheit von Frau und Mann und auf  Toleranz hin zu überprüfen. Eine Toleranz, die dem Land zum Beispiel einst die Presse- und Meinungsfreiheit brachte, die dazu beitrug, dass sich eine Minderheit als die wohl am besten geschützte Minderheit in Europa fühlen darf (deutschsprachige Gemeinschaft) und die sicher auch daran beteiligt war, dass die Homoehe anerkannt wurde.

Allerdings sollte diese Toleranz nicht in Ignoranz umschlagen und in eine Interesselosigkeit, die schon einmal dafür gesorgt haben, dass zwei Landesteile (der Norden und Süden Belgiens) ehe sie sich’s versehen, beginnen, sich auseinanderzuentwickeln; die diesem Land eine lange Zeit der Regierungslosigkeit bescherten und ja, die zahlreiche Probleme – auch in Molenbeek – mit sich gebracht haben.

Wachsamkeit ist also durchaus angesagt und vielleicht auch ein bisschen mehr Misstrauen, aber ihre Toleranz sollten die Belgier bitte nicht einbüßen müssen, auch wenn einige versuchen, ihnen etwas anderes einzureden.

Uta Neumann

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