"Ich liebe Belgien. Ich hasse Belgien" - Geert van Istendael

Im Hinblick auf die belgischen und flämischen Wahlen im Mai dieses Jahres hat der in Brüssel lebende flämische Schriftsteller Geert van Istendael über sein Land Belgien reflektiert und seine Gedanken hierzu für uns aufgeschrieben. Verbindet ihn eine Art Hassliebe zu seinem, diesem Land?

Ich liebe Belgien.
In diesem, meinem Land, sind die Häuser geräumiger und bequemer als in den Nachbarländern.
Ich hasse Belgien.
In diesem, meinem Land, sind die Häuser einfach ekelhaft protzig und noch dazu allgegenwärtig, so daß sie überall die süßen Landschaften versauen.

Ich liebe Belgien.
Viele meiner Landsleute sprechen Französisch. In der Schule habe ich diese wunderschöne Sprache gründlich gelernt. Ein Genuß ist sie, eine klare, genaue geistreiche Sprache, kühl und herb wie Chablis. Ich spreche, höre, lese gern Französisch, Sprache der Vernunft und des Maßes, Sprache des Mittelmeeres, Sprache der Pariser Frauen.
Ich hasse Belgien.
Dieses überhebliche Französisch hat versucht, meine Muttersprache, mein Niederländisch, zu ersticken. Es hat mein Niederländisch vertrieben zu den Schweinen und meiner Muttersprache den Zugang zur Schule verboten. Es hat mehr als ein Jahrhundert gedauert, bis mein Land die Sprache der Mehrheit seiner Bevölkerung anerkannte und das nur unter zähem, demokratischem Zwang.

Ich liebe Belgien.
Keine Spuren in meinem Land von den zwangsläufigen holländischen Modelaunen. Wir hegen nicht, wie die Holländer, die Illusion in einem Gidsland, in einer musterhaften Nation zu leben, die den anderen Nationen den richtigen Weg zeigt.
Ich hasse die Flamen, die Holländer zum kotzen finden. Diese Flamen sind so hinterwäldlerisch, daß sie einfach nicht imstande sind, den Ernst der Holländer und deren Organisationstalent zu schätzen.

Ich liebe Belgien.
Jeden Tag kann ich hier die derben, drallen, sprudelnden Mundarten hören.
Ich hasse Belgien.
Die Flamen haben zwar für die Anerkennung der niederländischen Sprache gekämpft, aber jetzt, wo die Sprache völlig anerkannt ist, verweigern sich die Flamen, ein anständiges Niederländisch zu reden. Obendrein sind sie davon überzeugt, daß ihr Kauderwelsch dem Hochniederländischen weit überlegen ist.

Ich liebe Belgien.
Die Korruption ist hier völlig demokratisiert. Jeder Belgier weiß, daß an jedem Gesetz ein Weg vorbeiführt und handelt dementsprechend. Die Macht ist nicht da zum Gehorsam, sondern zum kleinen Vorteil jedes Bürgers.
Ich hasse Belgien.
Nichts ist hier möglich ohne Seilschaften und Vetternwirtschaft. Die Tarnkappe der Macht umhüllt alles.

Ich liebe Belgien.
Richtig gut essen und trinken ist eine Selbstverständlichkeit.
Ich hasse Belgien.
Vom Sonnenaufgang bis zur Schlafenszeit, in Zeitungen und im Fernsehen, faselt man fortwährend über Essen und Trinken.

Ich liebe Belgien.
Wir sind die Weltmeister der byzantinischen Gleichgewichtsübungen, damit Wallonen und Flamen friedlich miteinander leben können. Wir metzeln einander nicht nieder wie Serben und Kroaten, wie Basken und Kastilianer oder wie die Nordiren untereinander.
Ich hasse Belgien.
Wann, um Gottes willen, wann werden wir endlich aufhören mit diesem unaufhörlichen Gezanke!?

Ich liebe Belgien.
Die Leute arbeiten wie verrückt und so ist es gut. Seit Jahrzehnten haben unsere Arbeiter weltweit die höchste Produktionsrate pro Kopf.
Ich hasse Belgien.
Die Leute wollen tagein tagaus nur arbeiten wie verrückt und das ist, nun ja, verrückt.

Ich liebe Belgien.
Jede Großtuerei und jeder faule Zauber wird blitzschnell entschärft mit den Worten: giene ziever.
Ich hasse Belgien.
Alles, was dem Belgier mulmig ist, alles, was er nicht kapiert, alles, was schöpferisch aufleuchtet, ist ihm dikke ziever.

Ich liebe Belgien.
Unser Premierminister ist der Sohn eines italienischen Gast- und Bergarbeiters und einer Mutter, die weder lesen noch schreiben konnte. Und er ist schwul. Ganz einfach so. Außerdem hat dieser Wallone unter peinlichster Anstrengung Niederländisch gelernt, denn ein Sprachgenie ist er ganz bestimmt nicht. Andererseits hat er mein Land ziemlich heil durch die Krise geschleust, gegen die Dogmen der falschen Wirtschaftspropheten und dem bleischweren Druck weltfremder Eurokraten nicht nachgebend.
Ich hasse Belgien.
Die politischen Gegner dieses Spaghettibelgiers sind nicht fähig, seine Leistungen und seine menschliche Freundlichkeit anzuerkennen, geschweige denn, sie zu schätzen. Die flämischen Arbeitgeber bezeichnen die Regierung dieses äußerst moderaten Sozialdemokraten als eine marxistische Steuerregierung. Das ist wahrscheinlich der Grund, warum superreiche Franzosen wie Louis Arnault und Gérard Depardieu nach Belgien umgezogen sind. Beide sind offensichtlich starrköpfige Marxisten.

Ich liebe Belgien.
Wir leiden keineswegs an Vaterlandsliebe (außer in den zwei Weltkriegen, aber das ist lange her).
Ich hasse Belgien.
Warum sind wir keineswegs stolz auf dieses Land?

Ich liebe Belgien.
Ein Land mit mehr als 1.000 Biersorten ist mehr oder weniger unregierbar. Ausnahme: Wenn wir keine wirkliche Regierung haben, dann geht’s richtig gut.
Ich hasse Belgien.
Mehr als 500 Tage Zwist und Hader über, ja, worüber eigentlich? Da habe ich die Nase voll.

Ich liebe Belgien.
Daß es so ‘was gibt!
Ich hasse Belgien.
Daß es so ‘was gibt!

Geert van Istendael.

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