Botschafter: "Stichwort Zusammenhalt"

171 Tage nach der Bundestagswahl wurde am 14.03.2018 eine neue Bundesregierung in Berlin vereidigt. Die Dauer der Regierungsbildung hat viele Bundesbürger überrascht und auch Verunsicherung ausgelöst. Für viele andere Staaten in Europa sind langwierige und teilweise komplizierte Prozesse der Regierungsbildung jedoch nichts Neues. Unverkennbar ist, dass sich insbesondere die demokratischen Staaten des Westens heute mit einer zunehmend fragmentierten und polarisierten politischen Landschaft konfrontiert sehen.

Dennoch: es gibt keinen Grund für Verzagtheit oder Kleinmut. Die guten wirtschaftlichen Perspektiven, aber auch unsere liberale Demokratie, die rechtsstaatliche Verfasstheit unserer Gemeinwesen, wie auch unsere Aufgeschlossenheit und Weltoffenheit sollten uns mit Zuversicht erfüllen, uns das Selbstvertrauen geben, dass wir, wie bereits in der Vergangenheit – beispielsweise bei der Überwindung der Teilung Europas - mit Mut und Entschlossenheit schwierige Herausforderungen meistern können. 

Selbst, wenn es nach der Regierungsbildung in Deutschland auch darum geht, verlorenes Vertrauen wiederzugewinnen, so bin ich doch überzeugt, dass sich die große Mehrheit der Deutschen nicht von populistischen "Rattenfängern" werden verführen lassen. Meinungsumfragen der letzten Tage zeigen vielmehr, dass auch nach den Erfahrungen mit der Regierungsbildung das Potential rechts- oder auch linksextremer Kräfte nicht gewachsen ist.

"Was heute auch von uns Bürgern gefragt ist, ist Zivilcourage"

Allerdings gibt es auch keinerlei Grund für Selbstgefälligkeit. In turbulenten Zeiten müssen sich die liberalen Demokratien des Westens, die zunehmenden Anfechtungen ausgesetzt sind, bewähren. Ein einfaches "Weiter so" reicht da nicht.

Aufgeschlossenheit und Toleranz scheinen gegenwärtig von einer Tendenz zu Selbstisolierung und aggressivem Nationalismus bedroht zu sein. Dieser Gegensatz charakterisiert nicht nur unsere Gesellschaft, sondern auch den Zustand Europas. Deshalb wird es jetzt zentral darauf ankommen, den Zusammenhalt unserer Gesellschaft wie auch den Zusammenhalt Europas zu bewahren und zu stärken. Nicht nur "die Politik", sondern jeder einzelne Bürger ist gefordert, einen Beitrag zu leisten, um dieser Verantwortung gerecht zu werden. Eine Begegnung mit Can Dündar vor einigen Tagen hat mir verdeutlicht, dass wir die Zeit auch der innenpolitischen Nabelschau hinter uns lassen sollten. Wir müssen mit Stolz auf - und Vertrauen in - unsere demokratischen und rechtsstaatlichen Gemeinwesen und Institutionen für unsere europäischen Werte eintreten. Was heute auch von uns Bürgern gefragt ist, ist Zivilcourage.

Der zwischen CDU, CSU und SPD geschlossene Koalitionsvertrag stellt die Aufgabe eines neuen Aufbruchs für Europa in seinem ersten Kapitel prominent heraus. Bereits in den ersten Tagen hat die neue Bundesregierung deutlich gemacht, wie ernst es ihr mit dieser Aufgabe ist. Deutschland und Frankreich werden eng zusammenarbeiten, um ausgehend von den Vorschlägen von Präsident Macron ein neues europapolitisches Momentum zu schaffen.

Gerade jetzt – in einer Zeit guter ökonomischer Rahmenbedingungen – muss die Chance für die Stärkung der EU entschlossen genutzt werden. Europa muss zusammenstehen, will es sich nicht selbst zu einem Objekt von globalen Prozessen degradieren, sondern selbst gestalterisch Einfluss nehmen. Nur ein starkes und einiges Europa kann als selbstbewusster Akteur die bestehenden globalen Herausforderungen annehmen.

Die EU ist in erster Linie ein politisches Projekt, das uns mehr als 70 Jahre Frieden beschert hat

Deutschland und Belgien sind besonders berufen, sich in enger Zusammenarbeit für einen neuen Aufbruch in Europa einzusetzen. Unsere beiden Länder teilen eine gemeinsame Vision von der Zukunft Europas. Diese speist sich gerade auch aus den Lehren, die wir aus den schrecklichen Kriegen des 20. Jahrhunderts gezogen haben. Wir wissen, dass die Europäische Union in erster Linie ein politisches Projekt ist, das uns mehr als 70 Jahre Frieden in Europa beschert hat. Umso verwunderlicher mutet es an, wenn jetzt einige europäische Partner offenbar Illusionen nachhängen und in Verkennung der Tatsachen ihr Heil in einem Rückzug ins nationale Schneckenhaus suchen. Gerade auch das hier in Belgien so präsente Gedenken an die Schrecken des Ersten Weltkrieges sollte uns eines Besseren belehren (vgl. auch den Beitrag, den wir zur deutschen Gedenkkultur ins Internet eingestellt haben: https://www.youtube.com/watch?v=DBCfx6l7LsQ).

Am bevorstehenden Osterfest feiern die Christen die Auferstehung Jesu. Es ist ein Fest der Freude. Gleichzeitig bieten die vor uns liegenden freien Tage auch die Gelegenheit zum Nachdenken und zur Besinnung. Diese sollten wir nutzen, um uns die zentrale Bedeutung des Zusammenhaltes unserer Gesellschaften wie auch Europas bewusst zu machen.

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